— Jg. 1926, Nr. 3 —
Die Faschingszeit ist im Anzug. In Köln, in München, aber auch anderswo beginnen wieder Gewissen zu schlagen. Darf man denn . . . ? In einer Zeit, wo . . . ? Bälle, Redouten, Flirt und Suff — neben Arbeitslosigkeit, Selbstmord und Hungerödem?
Eigentlich dürfte man wohl nicht. Aber man tut’s trotzdem. Und weil man nicht ehrlich zu gestehen wagt, daß man zu schwach ist, auf Gewohntes zu verzichten, oder daß fremdes Leid nicht wehe tut, wenn man so vorsichtig ist, es zu umgehen oder die Augen ein wenig zuzumachen, — so erfindet man Ausreden. Beispielsweise in Gmünd. Dort hat sich eine Versammlung auf dem Rathaus mit der Frage beschäftigt, ob man nicht dieses Jahr auf die geplanten Kostümbälle verzichten solle. „Nach reger Aussprache wurde beschlossen, die Bälle in bescheidenem Rahmen abzuhalten, wobei in der Hauptsache auf die Geschäftswelt Rücksicht genommen wurde. Bei Nichtabhaltung würden, so stellten einige Vertreter der hiesigen Geschäftswelt fest, nicht nur die Wirte betroffen werden, sondern in erster Linie das Schneiderinnengewerbe, bei dem mit einer vorläufigen Entlassung von etwa 50 Schneiderinnen für die zwei nächsten Monate zu rechnen gewesen wäre.“
Gott, wie sozial empfunden! Ich muß doch ein Barbar sein, daß sich mir jedesmal, wenn ich so etwas lese, etwas im Leibe herumdreht. Wahrscheinlich ist es mein wirtschaftliches Gewissen, dem es einfach nicht hinunter will, daß man Bier saufen soll, damit Wirte und Brauer nicht brotlos werden, Zigaretten rauchen, Ansichtskarten schreiben, Hüte, Seidenstrümpfe oder Ballkostüme tragen soll, damit soundsoviel Angestellte und Arbeiter in der betreffenden Branche weiterbeschäftigt werden können. Ist denn der Konsum wegen der Produzenten da oder nicht vielmehr umgekehrt, zum Teufel? Kann ich dafür, daß dieses blödsinnige Wirtschaftssystem, das wir haben, seine Arbeitskräfte nicht dahin zu stellen vermag, wo sie nötig wären? Daß man sie z. B. heute nicht zum Bau von Wohnungen verwendet, sondern zur Herstellung von Zahn-, Schuh-, Gesundheits-, Vernunft- und anderen Zerstörungsmitteln?
Die 50 durch den Verzicht auf Kostümbälle in Gmünd bedrohten Schneiderinnen hätten alle Hände voll zu tun, um Kleider für abgerissene arme Proletarierfrauen zu nähen, wenn diese Frauen Kleider kaufen könnten. Sie könnten kaufen, wenn ihre Männer nicht arbeitslos wären. Ihre Männer wären nicht arbeitslos, wenn Gmünd die 500 Wohnungen bauen würde, die dort ohne Zweifel fehlen. Gmünd könnte diese Wohnungen bauen, wenn Geld dazu vorhanden wäre. Geld dazu wäre vorhanden, wenn es von Reich, Ländern, Gemeinden und Privaten nicht für irgendwelchen Luxus wie Reichsmarine, Neckarkanal, Eckenerspende und Kostümbälle verschwendet würde.
Walther Rathenau hat in seinen Schriften neben aller sonstigen Unwirtschaftlichkeit im Einzelnen das Grundübel unserer privatkapitalistischen Wirtschaft in der falschen Lenkung des gesamten Erzeugungsvorgangs aufgedeckt. Von dem halben Dutzend Wirtschaftsminister, die in Deutschland ihres Amtes walten, wird noch lange keiner drauf kommen.
Und wenn einer doch drauf käme und gar versuchen würde, darnach zu handeln? Dann würde er schleunigst abgesägt.
1926, 3 Sch.