— Jg. 1922, Nr. 30 —
Nachdem sich die Marxisten als unfähig erwiesen haben, uns den Sozialismus zu bescheren (wahrscheinlich deshalb, weil wir nicht „reif“ dazu waren), kann man es uns nicht übel nehmen, wenn wir uns von der Beschäftigung mit dem „wissenschaftlichen“ Sozialismus ab- und anderen Lehren zuwenden: solchen, die zwar nicht so gelehrt sind und nicht so ,,historisch“ denken, aber sich dafür ein Bild zu machen suchen, wie die sozialistische Gesellschaft der Zukunft aussehen müßte und auf welchem Wege sie heraufzuführen wäre. Diese Sozialisten, denen die Wirklichkeit mehr ist als die Lehre, und die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit, werden von den zünftigen Vertretern des Sozialismus seit Marx unter dem Namen der „Utopisten“ über die Achsel angesehen, weil sie eine „überwundene“ Stufe und wissenschaftlich nicht einwandfrei seien. Aber wir Laien, die wir uns doch auch für Sozialisten halten, können mit ihnen vielleicht mehr anfangen als mit den Hochgelehrten und ihren Nachbetern, die gezeigt haben, daß sie zwar auseinandernehmen, aber nicht zusammensetzen können.
Ein solcher Utopist ist der österreichische Ingeniör Josef Popper mit dem Schriftstellernamen Lynkeus, der im hohen Alter am 21. Dezember 1921 gestorben ist. Als Ergebnis einer Lebensarbeit hat Popper Lynkeus im Jahr 1912 sein Buch über „Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage“ im Verlag von Carl Reißner in Dresden erscheinen lassen. Zu Lebzeiten des Verfassers hat das Werk in der Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit gefunden; jetzt, da er tot ist — so geht es gewöhnlich — wird man ihn „entdecken“ und vielleicht sogar einmal ein Denkmal für ihn setzen.
Popper-Lynkeus geht in seinen Gedanken nicht vom Kapitalismus aus, sondern von der Not. Die möchte er beseitigen; wie es dann dabei dem Kapitalismus geht, ist ihm gleichgültig. Die Not ist die Begleiterscheinung oder Folge der Existenzunsicherheit, die das Kennzeichen unserer Wirtschaftsverfassung bildet. Es gibt in ihr, richtig gesehen, nur zwei Klassen: die kleine der gesicherten und die überaus große, nicht etwa bloß die Arbeiter umfassende, der ungesicherten Existenzen. Sie sind ständig bedroht, und zwar nicht so sehr und beständig von den allgemeinen Wirtschaftskrisen, als von den rein persönlichen zufälligen „Privatkrisen“, wie Popper sie nennt. Ein Maler, der blind wird; ein Arzt, der taub wird; ein Sparer, dessen Papiere gestohlen werden oder ihren Wert verlieren; ein Landwirt, der Mißwachs hat; ein Buchhalter, der wegen Differenzen mit dem Chef entlassen wird; eine junge Witwe, die den Ernährer verliert; eine Familie, die mit Krankheit heimgesucht wird; der Gartenwirt bei schlechtem Wetter, der Sommertheaterdirektor bei gutem: sie alle können an „Privatkrisen“ zu Grunde gehen, gegen die kein soziales Programm etwas hilft, weil sie unberechenbar sind. Es gibt nur ein einziges Mittel dagegen: die Garantie des Existenzminimums an Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztlicher Hilfe für jeden Mitbürger ohne Unterschied. Dies, aber nicht mehr, zu gewähren, ist Aufgabe und Pflicht der Gesellschaft; und ist möglich für die Gesellschaft. Was drüber hinausgeht, ist Sache des Einzelnen und muß ihm überlassen bleiben, Popper hält die volle Ausschaltung des privaten Gewinnstrebens, der freien Privatwirtschaft, wie sie etwa eine radikale Sozialisierung (z. B. der „wissenschaftlichen“ Sozialisten) sich denkt, für unmöglich (utopisch!) und auch nicht für wünschenswert.
Die Voraussetzung der Lieferung des Existenzminimums an jeden Einzelnen, und zwar nicht in Geld, sondern in Natura, und zugleich die Gegenleistung des Einzelnen an das Ganze, ist die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, die Aufstellung einer „Nährpflichtarmee“, in der alle männlichen und weiblichen Bürger eine bestimmte Zeit zu dienen haben; und die Gründung der nötigen Anzahl landwirtschaftlicher und industrieller Großbetriebe. Die Dienstzeit in der Nährarmee müßte nach Poppers Berechnung in Deutschland für Männer 13 Jahre und für Frauen 8 Jahre (vom 18. bis 30. bzw. vom 18. bis 25. Lebensjahr) dauern; bei einer täglichen Arbeitszeit von 7 bis 7½ Stunden.
Popper trennt also das zum Leben Notwendige vom Überflüssigen. Für dieses will er die freie Wirtschaft mit Geld als Tauschmittel und freier Konkurrenz, also den „Kapitalismus“, erhalten wissen. Jenes will er „sozialisieren“: es soll durch die allgemeine Nährpflicht beschafft und „umsonst“, unter Vermeidung jeder Art von Geldwirtschaft, an jeden Staatsangehörigen von der Geburt bis zum Tode verteilt werden.
Sein Programm lautet dementsprechend:
„Die soziale Frage (als Frage nach der gesicherten Lebenshaltung aller) ist zu lösen durch die Institution einer Minimum- oder Nährarmee, die alles das produziert oder herbeischaffen hilft, was nach den Grundsätzen der Physiologie und Hygiene den Menschen notwendig ist; und falls es beschafft werden kann, noch etwas darüber hinaus, das heißt das, was zum Zwecke einer behaglicheren Lebenshaltung als wünschenswert gilt.
Die Versorgung dieses Lebens- oder Existenzminimums geschieht in natura, also nicht in Geldform, ausnahms- und bedingungslos für alle dem Staate angehörigen Menschen; nur werden die Tauglichen unter ihnen durch eine allgemeine Nährpflicht verhalten, eine bestimmte Anzahl von Jahren in der Minimuminstitution, welche einem Ministerium für Lebenshaltung unterstellt ist, tätig zu sein.
Die Minimuminstitution sichert jedem: Nahrung, Wohnung nebst Wohnungseinrichtung, Kleidung, ärztliche Hilfe und Krankenpflege. Alles das, was nicht zu diesem Minimum gehört, gilt als Luxus und bleibt der bisherigen freien Geldwirtschaft, mit Privateigentum und Vertragsfreiheit, vorbehalten, welche, da die Existenz aller gesichert ist, eventuell noch freier betrieben werden kann als heute.
Neben dem in natura verteilten Existenzminimum wird noch ein sekundäres oder kulturelles Minimum ebenfalls bedingungslos, jedoch in Geldform, ausgeteilt, das es ermöglichen soll, Luxusbedürfnisse — durch Kauf aus der freien Privatwirtschaft — zu befriedigen.“
Dem Leser wird die Verwandtschaft Poppers mit Wichard v. Moellendorff (auch einem Ingeniör!) aufgefallen sein. Auch dieser geht von der Unterscheidung zwischen Existenzminimum und Luxus aus. Jenes wünscht er sozialistisch und arbeitsteilig zu befriedigen; diesen will er freigeben, allerdings unter Ausschaltung arbeitsteiliger Arbeit, bei der Arbeitgeber und Arbeitnehmer entstehen. Popper-Lynkeus würde Moellendorff vielleicht entgegnen, daß das Verbot arbeitsteiliger Produktion für die freie Wirtschaft in seinem Staate gar nicht nötig sein werde, da nach dem Wegfall der Hungerpeitsche der Arbeiter ganz von selber dem Arbeitgeber gegenüber in eine andere Machtposition rückte, weil dann wahrscheinlich (um mit Oppenheimer zu reden) nicht mehr zwei Arbeiter einem Unternehmer, sondern zwei Unternehmer einem Arbeiter nachlaufen würden.
1922, 30 ─ Sch.