Die Versöhnung

— Jg. 1925, Nr. 25 —

Die Verständigung mit Frankreich unter ausdrücklichem Verzicht auf Elsaß-Lothringen, die jetzt unter der Präsidentschaft Hindenburgs von einer deutschnationalen Regierung betrieben wird, hätte schon ein paar Jahre früher an die Spitze unseres außenpolitischen Programms gehört. Die damaligen deutschen Minister hätten freilich das Leben riskiert, wenn sie so etwas gewagt hätten. Die heutigen riskieren weniger, aber immerhin ihren Sessel —, vorausgesetzt, daß es ihnen ernst ist mit ihrem Schritt. Vielleicht ist es auch nur eine Stresemanniade; ein Schachzug im Rahmen der bisherigen, scheinbar schlauen, in Wirklichkeit verkehrten Politik, England gegen Frankreich auszuspielen. 

Daß man das deutsche Angebot, auf das nunmehr die französische Antwort erfolgt ist, monatelang nicht veröffentlicht hat, würde zu dieser Annahme passen. Ehrliche Politik kann mit offenen Karten spielen. Oder hat man es dem eigenen Volk so lange als möglich verheimlichen wollen? Nachdem man es jahrelang mit allen Mitteln gegen den Abschaum der Menschheit, die Franzosen, verhetzt hat, mußte man ihm wohl etwas Zeit zur Umstellung lassen. Man wird dann auch jetzt den Hebel nur allmählich weiter rücken und die Verhandlungen über den Sicherheitspakt möglichst in die Länge ziehen. (Für die Unterhändler selber ganz angenehm; Herr Trendelenburg, der seit über einem halben Jahr den Handelsvertrag abschließt, mag sich in Paris hübsch akklimatisiert haben.) 

Während dieser Zeit dürfte es sich also herausstellen, ob der Sicherheitspakt diplomatisches Spiel oder politischer Ernst ist. In diesem Falle, wenn wirklich eine Annäherung an Frankreich beabsichtigt ist (die das A und O einer vernünftigen deutschen Außenpolitik sein müßte), würde in der von Hugenberg und Stinnes kontrollierten Presse doch wohl zur Abrüstung der Köpfe geschritten werden. Bei der Schafsdämlichkeit, mit der die deutschen Zeitungsleser den ihnen vorgesetzten Kohl zu fressen und zu verdauen pflegen, könnte man denken, daß ein Quartal hiezu genügen würde. Aber der Franzosenhaß sitzt, glaube ich, doch tiefer als das „Gott strafe England!“ Seine systematische, zielbewußte Ausräumung ist ein so großes Unternehmen, daß ich es unserer verehrlichen Regierung eigentlich nicht zutrauen kann. 

Umsomehr ist es die Pflicht aller Vernünftigen, ihn, und sei es auch nur sandkornweise, abtragen zu helfen. Europa wird untergehen, wenn es sich nicht assoziiert; Voraussetzung dafür ist das deutsch-französische Bündnis; Voraussetzung für dieses die Beseitigung des Revanchegeistes. Wer an ihr arbeitet, dient seinem Volk; wer sie verhindert, und hielte er sich für noch so patriotisch, verrät es. 

Deutsche und Franzosen, laßt euch nicht von Verblendeten und Interessenten weiter belügen! Ihr steht euch „völkisch“ viel näher als ihr glaubt; ihr ergänzt euch prächtig, wo ihr verschieden seid. Lernt euch kennen, studiert einander, besucht euch! Der Krieg hat euch, die Einfachen, Unverbildeten unter euch, durch Quartier und selbst Gefangenschaft ja eher näher als ferner gerückt. Pflegt die Beziehungen von damals; knüpft neue an! Arbeiterorganisationen, haltet gemeinsame Kongresse, schickt euch eure Kinder in die Ferien; Jugendbünde, macht euch auf die Fahrt ins Nachbarland; Schüler, wechselt Briefe mit Kameraden jenseits der Grenze; Studenten, soweit ihr nicht unheilbar fanatisiert seid, besucht gegenseitig eure Hochschulen; Ästheten, Künstler, Kunsthistoriker, Schriftsteller, Männer der Wissenschaft, widmet euch der Erkenntnis und Erforschung der nachbarlichen Kultur, die, ohne daß es manchem von euch bewußt ist, zum Teil eure eigene ist! 

Deutschland und Frankreich sind Geschwister. Geschwister können sich so hassen, wie sie sich lieben sollten. Ihr habt nur die eine Wahl: beide zu Grunde zu gehen oder euch endlich, endlich wieder die Hand zu reichen. 

1925, 25 · Erich Schairer