Die Wehrfrage

— 1929, Nr. 3 —

Die große Politik aller Länder kreist immer deutlicher um den Mittelpunkt der Wehrfrage. Die Rechtsparteien, die unbedingte Anhänger der Wehrhaftigkeit sind, haben das längst erkannt. Die Linksparteien haben es entweder noch nicht erkannt, oder sie haben sich gescheut, die Frage anzuschneiden, weil sie wohl wußten, daß in ihren Reihen darüber große Meinungsverschiedenheiten bestehen. Nur so ist es zu erklären, daß in Deutschland die Demokraten und Sozialdemokraten erst jetzt an die Ausarbeitung eines Wehrprogramms gehen.

Die Frage liegt deswegen sehr schwierig, weil einmal politische und militärische Richtlinien sich vielfach überschneiden, und weil bei den militärischen zwei Linien nebeneinander laufen. Politisch lautet die Frage so: Ist es bei der engen Verstrickung der Weltwirtschaft und Weltkultur heute noch zweckmäßig, Meinungsverschiedenheiten zwischen Staaten durch militärische Machtmittel zu schlichten? Militärisch lautet die Frage so: Lassen sich offensichtige und nichtoffensichtige Rüstungen unter ein und dieselbe Formel bringen? Da die militärischen Rüstungen, auch nach Ansicht der Wehrfreunde, nur Mittel zu politischen Zwecken sind, sollen sie als das Primäre zuerst behandelt werden.

Die Schöpfer der Friedensverträge haben, wenn auch die Wehrfreunde das vielfach bezweifeln, die ehrliche Absicht gehabt, der Welt neues Kriegsgrausen zu sparen. Sie haben wohl erkannt, daß das nur durch die allgemeine Abrüstung zu erzielen sei. Deswegen haben sie den Unterlegenen ein gewisses Maß von Abrüstung aufgezwungen in der Erwartung, daß ihre eigenen Völker dann allmählich auf diesem Wege folgen würden. Der Trugschluß dabei war der, daß sie nur die offensichtigen Rüstungen vertragsmäßig beschränken konnten, nicht aber die nichtoffensichtigen. Der Trugschluß war um so schlimmer, weil die letzteren heute eine weit größere kriegerische Bedeutung haben als die ersten. Man kann ohne weiteres alle die Waffen abschaffen, die nur Kriegszwecken dienen, nicht aber die, die gleichzeitig für Friedenszwecke ganz unentbehrlich sind. Diese letzteren sind es, die man in Frankreich „potentiel de guerre“ nennt. Wenn deutsche Staatsmänner von der vollkommenen Abrüstung Deutschlands reden, so meinen sie die uns durch den Friedensvertrag aufgezwungene Abrüstung der offensichtigen Kriegsmittel. Wenn französische Staatsmänner Mißtrauen gegen unsere Abrüstung zeigen, so meinen sie die nichtoffensichtigen. Beide reden also aneinander vorbei. Dieses anmutige Spielchen kann fortgesetzt werden, bis beiden Völkern eines Tages die Gift- und Gasbomben auf die Köpfe hageln.

Aus diesem fast unlösbaren Wirrwarr kann nur die Beantwortung der eingangs gestellten politischen Frage den Ausweg zeigen. Ich bin der Ansicht, daß es heute überhaupt keinen möglichen Fall gibt, wo durch den Gewalteingriff des Krieges für einen der Beteiligten irgendein Nutzen erzielt werden kann. Ich behaupte, daß die enge Verstrickung der Weltwirtschaft und Weltkultur es mit sich bringt, daß kein Volk das andere schädigen kann, ohne sich selbst mitzuschädigen. Mit dem Augenblick, wo man zugibt, daß aus einem Kriege auch der Sieger keinesfalls mehr einen Nutzen, sondern sogar sicher auch einen Schaden nehmen wird, muß man doch sagen, daß der Krieg an sich jeden Sinn verloren hat. Um diese Meinungsverschiedenheiten dreht sich der Kampf, den ich seit Jahren nicht nur gegen meine Gegner der Rechten, sondern seit die Wehrfrage auch bei den beiden mir nahestehenden Linksparteien angeschnitten worden ist, auch gegen einige der eigenen Freunde führe.

So weit sind wir immerhin schon gekommen, daß einen Angriffskrieg auch die Rechtsparteien nicht mehr offen fordern. Alles dreht sich nur noch um den Verteidigungskrieg. Ich sehe hier ganz ab von dem uralten Trick der Kriegsinteressenten, ihre Profitkriege in den Augen der Völker in Verteidigungskriege umzufälschen. Ich will nur einmal nüchtern prüfen, ob es denn bei einem wirklichen Angriff kein besseres Verteidigungsmittel gibt als die Tötungsmaschinen.

Die Frage spielte bei meinen letzten Vortragsreisen im Osten Deutschlands eine große Rolle. Man stellte mir von seiten der Kriegsfreunde mehrfach die Frage, was ich tun würde, wenn Polen über uns herfiele. Ich antwortete, daß ich solch einen Überfall für ganz ausgeschlossen hielte, daß die Polengefahr auch eines jener Bilder sei, das die Kriegsinteressenten dauernd an die Wand malten, um die beiden Völker in ewiger Furcht vor einander zu halten. Weiter behauptete ich, daß, selbst wenn die Polen in Ostpreußen und Pommern einfallen sollten, der Generalstreik ein besseres Abwehrmittel wäre als irgendeine blutige Kampfhandlung.

Natürlich fiel darob die ganze Rechtspresse über mich her. Ich konnte sie aber mit ihren eigenen Waffen schlagen. Sie selbst haben gelegentlich der französischen Ruhrbesetzung das Mittel des passiven Widerstandes als das beste in hohen Tönen gepriesen. Daß es damals versagte, lag nicht an dem Mittel an sich, sondern daran, daß wir es durch heimlich eingemischte aktive Gegenwehr verfälschten. Aber selbst denjenigen, die an die Güte des Generalstreiks als kriegsverhinderndes Mittel nicht glauben, erwidere ich, daß heute jeder lokale Krieg mit automatischer Sicherheit den europäischen Krieg auslösen würde, und daß ein solcher das Ende der europäischen Kultur und Wirtschaft wäre. Wenn ich aber zu wählen habe zwischen einem sicher schlechten und einem vielleicht guten Abwehrmittel, dann wähle ich das letztere, selbst auf die Gefahr hin, daß es nicht alle meine Hoffnungen erfüllen sollte. […]

Ich bin vielleicht allzu sehr Optimist, aber ich glaube, daß ein wirklich als solcher erkannter Angreifer heute die ganze Welt gegen sich hätte. Ich glaube an ein Weltgewissen, will aber den Gegnern das Zugeständnis machen, daß dieses Gewissen stark durchsetzt ist mit Nützlichkeitserwägungen. Es gibt kein besseres Mittel, den Angreifer für die ganze Welt erkennbar zu machen, als den passiven Widerstand des Angegriffenen. Unser unter grobem Rechtsbruch erfolgter Einfall in Belgien hat das Weltgewissen tatsächlich geweckt. Es ist eben der Grundfehler aller Militaristen und Nationalisten, daß sie die sittliche Seite ihrer Taten gegenüber der gewalttätigen unterschätzen. […]

1929, 3 · Paul von Schoenaich

Sobald einer die Unfähigkeit spürt, sich im Leben durchzusetzen, fängt er an, sich für einen Idealisten zu halten.

1932, 3 · Hermann Mauthe