— Jg. 1926, Nr. 35 —
Kein politisches Schlagwort muß sich gröbere Mißverständnisse und dümmere Ausdeutungen gefallen lassen, als die alte demokratische Forderung — oder Behauptung — der Gleichheit aller Staatsbürger.
Es ist wirklich kein Kunststück, festzustellen, daß die Menschen verschieden sind. Immerhin sind sie z.B. darin gleich, daß sie alle sterben müssen, und daß sie alle zum Leben Brot, Kleider und Häuser brauchen. Daß sie alle leiden, wenn man sie quält, und froh sind, wenn man sie in Ruhe läßt. Erst wenn ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind, wenn gewisse allgemein gleiche Grundbedingungen erfüllt sind, wird es den Einzelnen möglich, die persönlichen Eigenschaften und Gaben zur Geltung zu bringen, in denen ihre Verschiedenheit von anderen beruht. Es ist also keine „öde Gleichmacherei“, sondern die Voraussetzung für das Gegenteil, wenn man von einer sozialen Ordnung verlangt, daß sie „gerecht“ sei, daß sie allen Teilhabern gleichen Start und gleiche Chancen gewähre. Nur auf diese Weise wird die richtige, die gerechte Auslese, wird Sieg und Führerschaft der Besten ermöglicht.
Wenn diesen dann infolge ihrer besonderen Leistung eine besondere Stellung und ein größerer Anteil an den Gütern des Lebens zufällt, wenn ihnen die Befriedigung von Bedürfnissen über das allgemein gleiche Minimum hinaus gestattet wird, so widerspricht das zunächst keineswegs demokratischen Grundsätzen. Erst die Vererbung größeren Besitzes oder größerer Macht ist bedenklich, fordert Korrektur und Sicherung.
Auch hier wieder lautet ein kindlicher Einwand: es werde ja doch nie gelingen, alle Güter, allen Besitz auf die Dauer gleichmäßig zu verteilen. Er erinnert fatal an den Satz, daß es keinen Sinn habe, die Stiefel zu putzen, weil sie ja doch bald wieder schmutzig würden. Eine periodische Neuaufteilung des Besitzes, wie sie die mosaische Gesetzgebung im sogenannten „Halljahr“ alle fünfzig Jahre vorsah, wäre eine sehr weise Einrichtung, weil sie zwar keine mathematische Gleichheit garantieren, aber die sehr schädliche allzu große Ungleichheit des Besitzes verhindern würde. Es gibt nämlich eine Grenze nach oben und eine nach unten, innerhalb derer in einem gesunden Gemeinwesen Einzelbesitz wünschenswert oder erträglich ist. Was drüber oder drunter ist, das ist vom Übel.
Das übermäßige Anwachsen von Besitz in einer einzelnen Hand ließe sich nun aber auf sehr einfache Weise verhindern: durch eine radikale Erbschaftsbesteuerung, wie sie etwa der vor fünf Jahren ermordete Erzberger einmal im Sinne hatte. Auf dem Weg über eine Erbschaftssteuer könnte man auch die Enteignung des Großgrundbesitzes bewerkstelligen, zu der die Verfassung von Weimar zwar die Handhabe bietet, aber ohne daß sie bis jetzt von einem deutschen Staatsmann ergriffen worden wäre. Am Spezialfall des Grundbesitzes wird die Gemeinschädlichkeit des Übermaßes für jeden Betrachter, der nicht absichtlich die Augen verschließt, ganz besonders deutlich. Zwar würde es auch ohne Großgrundbesitz noch eine „Arbeiterfrage“ geben; aber sie würde anders und weniger gefährlich lauten als die unsrige.
Was heute von den Besitzenden und Privilegierten verächtlich als „Masse“ behandelt und trotz demokratischen Formen und „freiester Verfassung der Welt“ von der Teilnahme am Leben des Staates so weit als möglich ferngehalten wird, ist das Ergebnis einer undemokratischen, ungerechten, verkehrten Gesellschaftsordnung, die dem, der hat, noch mehr gibt und dem, der nicht hat, auch das Wenige noch nehmen möchte. Erst eine Nivellierung, die altes Sumpfgelände austrocknet und alte Aufschüttungen abträgt, die das Monopol der Reichen, der „Gebildeten“ (sie sind es ja nur in Anführungszeichen), der „Akademiker“ beseitigt -, erst eine solche Einebnung könnte den gesunden Nährboden schaffen für ein Volk, das nicht „Masse“ ist; das nicht von „Bonzen“ geführt wird, sondern von Persönlichkeiten.
1926, 35 Erich Schairer