— Jg. 1926, Nr. 14 —
Im Juni 1924 ist der italienische Sozialist [Giacomo] Matteotti von Fascisten ermordet worden. Im März 1926 sind die Mörder teils freigesprochen, teils so verurteilt worden, daß sie in wenigen Monaten wieder im Lichte (mussolinischer Gnade) wandeln werden. Mussolini, der Vergewaltiger des Rechts und der Menschlichkeit, hat alle Ursache, die Sonne seines Wohlwollens über den Verurteilten strahlen zu lassen: wer weiß, was sie aussagen würden, wenn sie aussagen würden! Man weiß es nicht; aber man ahnt es, mit einer hundertprozentigen Ahnung, die noch schwerer wiegt als unser einstweilen neunzigprozentiges Wissen.
Daß der Prozeß gegen die Mörder Matteottis ein freches Theaterstück sein würde, hat man zwar gewußt. Vor allem bei uns in Deutschland hat man daran nicht gezweifelt: denn wir haben schon genug ähnliche Fälle in unserem eigenen Lande erlebt. Allerdings: daß die blutbefleckten Buben es wagen würden, so frech, so grotesk frech daherzulügen, wie es der Hauptschuldige Dumini getan hat, hätten selbst wir uns nicht träumen lassen. Er hat die Stirn gehabt, zu behaupten, Matteotti sei an einem Blutsturz gestorben; und die Stichwunden, die sein armer, zerfetzter Körper aufwies, seien Wanzenstiche gewesen, die er sich selbst aufgekratzt habe.
Ein für nichtitalienische Richter besonders lehrreiches Kapitel ist der Urteilsspruch über die drei Mörder Dumini, Volpi und Poveromo, die nicht wie ihre Komplizen freigesprochen worden sind. Sie wurden verurteilt zu je 12 Jahren Gefängnis, wegen — Mordes? — nein: wegen Totschlags ohne Vorbedacht. Da man aber nicht feststellen konnte, wer der eigentliche Mörder war, wurden jedem 5 Jahre abgezogen. Rest: 7. Nun hatten die Geschworenen mildernde Umstände anerkannt. Dafür gab’s wieder einen Abzug. Wie man ihn ausgerechnet hat, mögen die Götter wissen; fest steht, daß als Strafe blieben: 5 Jahre 11 Monate 20 Tage. Aber der Mord hatte ja politische Gründe, und für politische Verbrechen existiert eine Amnestie. Darum waren 4 Jahre der Strafe zu erlassen. Endergebnis also: 1 Jahr 11 Monate 20 Tage. Und die haben die Kerle bis auf wenige Wochen schon abgesessen. Also werden sie bald frei. Und alles ist zufrieden: die Richter, die Mörder, die Fascisten und Mussolini.
Das ist das Gesicht des Fascismus. Gewissenlos, brutal, frech, hohnvoll, solange er sich im Besitz der Macht weiß: so grinst er uns an — jenseits der Alpen oder diesseits: es ist überall das gleiche.
Das einzig Schöne, Starke und Würdige in der Geschichte des Matteottiprozesses ist der Brief an den Präsidenten des Schwurgerichts von Chieti, durch den die Witwe Matteottis, die als Nebenklägerin aufgetreten war, ihre Klage zurückzog, als sie merkte, wie man diesen Prozeß führen würde. Er heißt: „Exzellenz! Die Ermordung Giacomo Matteottis, die für mich und meine Kinder eine Tragödie ist und als solche von jedem freien Menschen in Italien empfunden wurde, hatte in mir den Glauben geweckt, daß der Ruf nach Gerechtigkeit nicht ungehört verhallen würde; dieser Glauben hat mich in meinem äußersten Jammer aufrechterhalten und mich bewogen, als Privatklägerin aufzutreten. Aber in den Wechselfällen der Untersuchung und durch die jüngste Amnestie ist der Prozeß — der wahre Prozeß — nach und nach wesenlos geworden. Was heute von ihm bleibt, ist nur ein Schatten. Ich hatte keinen Haß auszudrücken und keine Rache zu fordern; ich wollte nur Gerechtigkeit. Die Menschen haben sie mir verweigert; ich werde sie von der Geschichte empfangen und von Gott. Ich ersuche Sie daher, mir zu erlauben, dem Prozeß fernzubleiben, der mich nichts weiter angeht. Meine Anwälte, die auch in diesem Augenblick mit mir solidarisch sind, werden meiner Entscheidung rechtskräftige Form geben. An Sie, Exzellenz, richte ich die Bitte, mich der Qual, vor den Assisen zu erscheinen, zu entbinden. Es würde mir vorkommen, als ob ich dadurch das Andenken Giacomo Matteottis beleidige, für den das Leben etwas furchtbar Ernstes war, jenes Andenken, um dessentwillen ich weiterlebe, einsam und zerrissen, und in dessen Licht ich meine Söhne zu stolzen und furchtlosen Menschen erziehen will, wie ihr Vater einer war. Mit Hochachtung Velia Matteotti.“
Das ist die Sprache einer Römerin. Wenn der Duce, der große Schuldige, der in Chieti nicht vor den Schranken gestanden hat, nicht vor lauter Cäsarenwahnsinn taub geworden wäre für die Stimme der großen, edlen und freien Gesinnung, müßte er sich wie ein Hund in seine Hütte verkriechen, in der Erinnerung an seine eigenen, verlogenen, großmäuligen Frasen.
Aber bei uns im kühlen, vernünftigen Norden erkennen sich nicht einmal kleinere, spießbürgerlichere, gesündere fascistische Maulhelden selbst — was kann man da von einem Irrsinnnigen, Größenwahnsinnigen unter der heißen italienischen Sonne erwarten?
1926, 14 Max Barth
Der Urheber des Mordes an Matteotti ist Mussolini. Zwischeninstanz zwischen ihm und den Mördern war sein Pressechef Rossi, der nachher ins Ausland floh und Mussolini beschuldigte. Rossi ist im August 1928 von der Schweiz aus auf italienisches Gebiet gelockt, verhaftet und im September 1929 zu 30 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Siehe auch:https://www.zeit.de/1994/24/die-affaere-matteotti/komplettansicht