Polizei oder Militär?

— Jg. 1929, Nr. 20 —

Die Berichte vom Berliner Kriegsschauplatz des ersten Mai 1929 sind zwar je nach der Parteistellung der Berichtenden ebenso verschieden wie etwa die über eine Schlacht im Weltkrieg, aber es gibt doch einige Tatsachen, die von niemand mehr bestritten werden können. Z. B. folgende:

1. Im Laufe des ersten Mai ist in Berlin das polizeiliche Verbot von Maifeiern, abgesehen von einigen kleineren Ansammlungen, die rasch zerstreut wurden, nicht übertreten worden. Diese Feststellung (wie auch die, daß keine eigentlichen Kämpfe stattgefunden haben) richtet sich in gleichem Maße gegen die Verteidigungsversuche der Polizei wie gegen die blutigen Frasen der Kommunisten und einige bombastische Telegramme aus Moskau, die von „Revolution“ usw. reden.

2. Die Schießerei ist von der Polizei begonnen worden. Ob Zivilisten überhaupt geschossen haben, ist fraglich. Jedenfalls ist nur ein einziger Polizist durch einen Schuß verletzt worden, und zwar aus Versehen von einem Kollegen.

3. Die Polizei hat z. T. ohne jede Warnung Passanten erschossen. In den meisten Fällen begann sie sofort nach dem Warnruf „Straße frei!“ mit der Schießerei.

4. Die Polizei hat ganz unbeteiligte Menschen aus Wohnungen herausgeschleift, mißhandelt und verhaftet. Schon die paar Prozesse, die in Moabit im Schnellverfahren verhandelt worden sind, zeigen das sehr deutlich.

Außerdem werden eine Unmenge einzelner Beispiele von rohem und sinnlosem Vorgehen der Polizei berichtet. Sie hat z. B. Menschen, die auf Verkehrsinseln die Straßenbahn erwarteten, ohne jede Warnung mit dem Gummiknüppel auseinandergetrieben, hat in den abgesperrten Stadtteilen blindlings die Straßen hinabgeschossen und in Wohnungen hineingefeuert und hat auch aus den abgesperrten Bezirken heraus mit Maschinengewehren in freigegebene Straßen geschossen usw. Das Ergebnis von fünf Kampftagen war daher auf Seiten des „Zivils“: 24 Tote, 73 Schwerverletzte, über hundert Leichtverletzte, auf Seiten der Polizei: kein Toter, 4 Schwerverletzte, 43 Leichtverletzte, unter ihnen, wie gesagt, nur ein einziger durch einen Schuß Verletzter.

„Soll dies künftig rechtens in Preußen sein, daß die Polizei, wenn eine ihrer Vorschriften von einer kleinen Rotte Menschen wirklich oder vermeintlich nicht befolgt wird, plötzlich ganze Stadtteile abriegeln, in die Fenster knallen, total unbeteiligte Menschen aus Wohnungen zerren, mit Gummiknüppeln lahm und krumm schlagen und wie Treibwild niederschießen darf? Soll es zur Maxime werden, daß Städte oder Stadtteile des eigenen Landes wegen irgendwelcher polizeiwidriger Akte einzelner Einwohner insgesamt als Kriegsgebiet behandelt werden können?“ Fragt das „Tagebuch“.

Die Antwort auf diese Frage wird lauten müssen: das hängt von der Ausbildung der Polizei ab. Nach der Revolution, als der Glaube an das Wort „Der Mensch ist gut“ noch stärker war, hat man viel davon gesprochen, der Polizist müsse der „Vertrauensmann der Straße“ sein. Heute wagt man kaum mehr davon zu reden. Denn heute ist die Ausbildung der Polizei, des „zweiten Heeres“, ganz militärisch. Die Polizei wird auf den Bürgerkrieg trainiert. Nach einem Artikel in der Beamten-Korrespondenz „Beko“ haben die jungen Polizeianwärter jeden vierten Tag einmal einige Stunden Unterricht im Polizeidienst, im übrigen aber werden sie militärisch gedrillt. Auf der Polizeioffiziersschule ist es nicht anders. Die Leiter halten sich an die Übungsmethoden des alten Generalstabs, teils weil sie selber noch in dieser Mentalität leben, teils weil es die Vorschriften verlangen. Bei den von Zeit zu Zeit stattfindenden Offiziersbesprechungen z. B. erhalten die Offiziere in versiegeltem Umschlag taktische Aufgaben für den Bürgerkrieg gestellt, die sie mit Bleisoldaten zu lösen haben. In den Maitagen haben die Offiziere die jungen Polizeimannschaften (man hat zum größten Teil ganz junge Leute „eingesetzt“) dann genau so in den „Krieg“ geführt wie sie es am Sandkasten gelernt haben.

Im September vorigen Jahres hat Ignaz Wrobel in einem Artikel der „Weltbühne“ auf ein Buch „Polizeiverwendung, dargestellt an Aufgaben, Buch II, Beim Einsatz im Stadtgebiet“ von K. v. Oven hingewiesen. Wenn man heute diesen Artikel und die darin angeführten Zitate aus Ovens Buch liest, dann ist man über das Vorgehen der Polizei in den Maitagen nicht mehr erstaunt: die Praxis entspricht haargenau der Theorie, in der von nichts anderem die Rede ist als von „Einsatz“, „Stoßrichtung“, „Kampfweise der Aufständischen“, „Ablieferung von Gefangenen“ usw. Es ist also gar kein Wunder, wenn man heute, wie die „Frankfurter Zeitung“ in einem Bericht über die Maitage es getan hat, feststellen muß: „Die Aufgabe ist typisch polizeilich, der Einsatz an Mannschaften aber und das Vorgehen ist militärisch.“

Die Vorschriften für die Ausbildung der Polizei sind militärisch und die Lehrer und Offiziere leben in militärischem Geist — man muß also die Ausbildungsvorschriften und die Personalpolitik ändern. Für beides ist das preußische Ministerium des Innern verantwortlich. Hier sitzt zwar der Sozialdemokrat Grzesinski an der Spitze, aber man merkt nichts davon. Ob er nicht kann oder ob er nicht will, weiß ich nicht. Jedenfalls hat der Ministerialdirektor Klausener, der Leiter der Polizeiabteilung, mehr Einfluß auf die Polizei als Grzesinski. Hier müßte man also mit dem Ausputzen anfangen.

Wahrscheinlich geschieht aber nichts. Höchstens werden ein paar reaktionäre Polizeioffiziere, die sich durch besonders rohes Vorgehen bemerkbar gemacht haben, versetzt. Zehn gegen eins zu wetten: als Lehrer an eine Polizeischule. Damit die Tradition erhalten bleibt.

1929, 20 Hermann List

1. 5. 1929: Während der Maikundgebungen kommt es in vielen Städten zu Unruhen. In Berlin gehen 13.000 Polizisten gewaltsam gegen Demonstranten vor. Neun Menschen sterben, 63 werden schwer verletzt.

3. 5. 1929: Nach neuen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei verhängt der Berliner Polizeipräsident ein „Verkehr- und Lichtverbot“ über die Berliner Bezirke Wedding und Neukölln. Es wurden insgesamt 33 Demonstranten getötet, weitere 198 Demonstranten sowie 47 Polizisten wurden verletzt.