Sterndeuter

— Jg. 1929, Nr. 42 —

Es ist Herbst geworden. Das Jahr geht seinem Ende zu. Man beginnt schon wieder zurückzublicken. Ein Beginnen, das in jedem Falle an Reiz gewinnt, wenn man die Ereignisse mit denen vergleicht, die vorher für dieses Jahr vorausgesagt worden waren. Mit anderen Worten, wenn man einen der „bewährten“ astrologischen Kalender aufstöbert, durchblättert und — feststellt, was nun von den Profezeiungen eingetroffen ist.

Alles — o ihr Skeptiker, zweifelt nicht! — alles ist eingetroffen. Hat nicht Mars in diesem Jahr auf dieser Erde „Dispute, Sorgen, Explosionen, Brände“ gebracht? „Neues auf dem Gebiet der Technik und Wissenschaft, Morde, Selbstmorde, Verwirrung in politischen Angelegenheiten, gespannte internationale Beziehungen, aber auch Entspannungen, fatale Vorkommnisse, Grubenunglücke, viele Heiraten in höheren Kreisen, wichtige Debatten in Parlamenten, finanzielle Schwankungen an der Börse, Unfälle im Eisenbahnverkehr, auch mit Automobilen.“ Und noch genauere Angaben haben gestimmt, Dinge, an die niemand gedacht hatte, wie „Schneestürme im Januar“ (wo, ob in Deutschland oder Alaska, ist allerdings nicht angegeben).

Wenn man diese hundert Seiten voll Kinderweisheit — es ist der „Profetische Kalender für das Jahr 1929“ des „führenden Astrologen“ A. M. Grimm — nach der Voraussage von Ereignissen durchsucht, die nicht jeder Schulbube vorher wissen kann, dann findet man unter tausenden von Selbstverständlichkeiten immerhin ein oder zwei konkrete Angaben. Sehr nett dabei, zu sehen, wie bei den Sterndeutern die politischen Wünsche die Väter der profetischen Gedanken sind. Da sind z. B. die Sterne sichtlich mit dem Bolschewismus unzufrieden: in den Profezeiungen über das „Schicksal der einzelnen Länder“ heißt es bei „Sowjet-Rußland“:

„Die Freunde und Helfer des Zarismus treten hervor, Vorbereitung des Umsturzes“. Man merkt zwar nichts davon, aber die kapitalistischen Sterne müssen es wissen. Daß die Sterne außerdem Gegner des Pazifismus sind, war schon vor einem Jahr dem offiziellen Organ des „Deutschen Astrologenbundes“ zu entnehmen: „dem famosen Kellogg-Pakt“, hieß es da, „werden wir ein gewaltsames und baldiges Ende profezeien müssen“.

Das Wichtigste in dem kosmisch-astrologischen Kalender steht natürlich hinten: der Prospekt über astrologische Arbeiten, in dem der Verfasser, in einer langen von 1000 bis 10 Mark gehenden Preisliste seine verschiedenartig nuancierten Horoskope, Schicksalskurven-Berechnungen und Deutungen von Nativitäten anpreist. Keine Sorge! Die von allen wundergläubigen Kirchen und Konfessionen gepflegte Naivität der Menschheit ernährt auch solche Profeten. Passieren kann ihnen, selbst wenn es bei ihren Opfern Nervenzusammenbrüche gibt, nichts: die Gerichte billigen ihnen nämlich den „guten Glauben“ zu.

1929, 42 Ehrmann