Eine nationale Forderung
— Jg. 1920, Nr. 15 —
Bitte: es handelt sich hier um keine Kleinigkeit, wie Sie annehmen, sondern um eine Sache, die das ganze deutsche Volk angeht, soweit es nicht barfuß läuft oder laufen will. Eine Angelegenheit von breitester nationaler Bedeutung. Unbegreiflich, daß sich die Öffentlichkeit darum bis jetzt nicht gekümmert hat. Meines Wissens enthält kein einziges Parteiprogramm diese Forderung, auch kein Wirtschaftsbund hat sie bis jetzt ausgesprochen; höchstens, daß vielleicht der Reichswirtschaftsrat . . . doch der ist Zukunftsmusik, bekanntlich.
Also die Forderung lautet: Wir brauchen eine anständige Stiefelwichse! Meine Herrschaften: die Stiefelwichse-Verhältnisse sind trostlos. Es gibt zwar eine Unmenge von Stiefelwichsen, pardon: von Schuhcremes, Schuhpasten, Schuhputz-Zaubermitteln. Sie alle sind „die besten“, wie uns andauernd versichert wird; aber eine gute Stiefelwichse (bitte genehmigen Sie das ordinäre, aber vertrauenerweckende altmodische Wort) ist nicht darunter. Alle erzeugen „Hochglanz“ in fabelhaft kurzer Zeit; aber alle machen das Leder kaputt, weil sie es anfressen, statt es zu konservieren. Sie wissen, was heute ein Paar Stiefel kosten; Sie wissen auf alle Fälle, daß wir in Deutschland Ledermangel haben. Wenn man wenig Leder hat, dann soll man versuchen, dieses wenige möglichst pfleglich zu behandeln, damit man es möglichst lange hat. Wie kommt es nur, daß wir unter dieser Voraussetzung (das ist doch logisch, pflegt mein Nachbar zu sagen) unser Schuhleder systematisch vermittelst Planetal, Kosmin, Colorin und wie die unmöglichen und unzähligen Wölfe im Schafspelz (Säuren im Fettpelz?) heißen, ruinieren? Wenn sämtliche Stiefel in Deutschland dank einem Schuhputzmittel, das bewahrt, statt zu zerstören, je ein Jahr länger halten, dann sparen wir 25 Prozent an Schuhleder. Ist das eine Kleinigkeit? Ist das vielleicht nicht im nationalen Interesse, Herr zweiter Vorsitzender des Wahlvereins Ostvorstadt? Ich sage Ihnen: ich werde bei der nächsten Wahl nur einer Liste meine Stimme geben, deren Vertreter mir schwören, daß sie für eine gute Schuhwichse kämpfen werden.
Aber vielleicht gibt es in Deutschland einen Fabrikanten, dem mit diesen Zeilen entsetzliches Unrecht geschieht. Einen Mann, der wirklich eine anständige Stiefelwichse produziert und die schlichte Wahrheit sagt, wenn er diese als die „beste“ bezeichnet. Aber warum kenne ich ihn und sein preiswürdiges Fabrikat nicht? Ich habe unzählige von den verfluchten Schmieren durchprobiert; es war nicht darunter. Liebes Reichswirtschaftsministerium! Hilf! (Denn in dein Ressort gehört doch die Stiefelwichse.) Laß mal ein paar Chemiker — aber keine, die mit der Herstellung von Stiefelwichse zu tun haben -, vielleicht aber vereidigte Gerichtschemiker, zusammensitzen und sämtliche in Deutschland fabrizierten „Schuhcremes“ durchanalysieren. Als sachverständigen Beirat würde ich einen tüchtigen Schuster empfehlen (nicht den Geschäftsführer des Verbands Deutscher Schuhfabrikanten). Sollte dabei eine Wichse zutage treten, die dem Leder gut tut, dann gib einen Erlaß heraus: „Schmotzin ist die beste Schuhwichse. Der Reichswirtschaftsminister.“ Von da an weiß ich, was ich zu tun habe. Oder, wenn es sich herausstellen sollte, daß alle die vorhandenen Wichsen nicht „die besten“ sind, dann möge das Reichswirtschaftsministerium einen Preis aussetzen für die beste Stiefelwichse und sich das Patent darauf geben lassen und eine Fabrik darauf gründen. Ich werde von da an nur noch „Schmidtin“ oder wie es nun heißen soll, verwenden; und würde endlich einmal meine Stiefel putzen können, ohne mich über die verdammte Wichse zu ärgern.
1920, 15 Sch.