Die deutsche Gefahr
— Jg. 1926, Nr. 43 —
Das gefährlichste Moment der innenpolitischen Lage in Deutschland liegt wohl darin, daß wir eine Republik, aber keine oder viel zu wenig republikanische Bürger haben. Wir haben eine Form, aber keinen Inhalt; ein Faß, aber keinen Wein.
Die Reichswehr ist eine durchaus bürgerliche Angelegenheit. Das könnte sie auch ohne Schaden sein, wenn das Bürgertum darnach wäre. Die Schweizer Miliz ist eine bürgerlich-bäuerliche Institution, ohne jede sozialistische Komponente, und doch ist sie ein Hort der Freiheit. Der Schweizer Bürger will frei sein, der deutsche Bürger nicht. Da liegt der Hase im Pfeffer.
Der deutsche Bürger hat seit dem Dreißigjährigen Kriege keine Geschichte mehr. Während die Schweizer Geschichte vom Leben, Arbeiten, Sichentwickeln des Bürgers und Bauern handelt, ist die deutsche Geschichte seit jenem unseligen Einschnitt in alles politische Geschehen, dem Dreißigjährigen Kriege, eine Geschichte der Fürsten. Das deutsche Heer, in welchen Formen es auch immer auftrat, ist ein Instrument der Dynastien gewesen. Das Volk ist stets Material seiner Herren gewesen. Diese Herren haben 1918 gewechselt. Aber das Volk ist Material geblieben.
Wie soll der, der jahrhundertelang Untertan war, in wenigen Jahren ein freier Staatsbürger werden? Die Kirchen haben aus eigenem Interesse die Untertaneneigenschaft des Deutschen sorgfältig gepflegt, ja, wenn es ihnen notwendig erschien, mit Gewalt erhalten. In den Tagen der größten deutschen Revolution, im Bauernkrieg, hat Luther sein unsoziales und durchaus reaktionäres Herz bewiesen, als er sich zu den Fürsten und gegen die Bauern stellte. Er war ein Vorläufer jener christusfernen Stahlhelmpastoren, als er den blutgierigen Fürstenknechten sein „Schlagt die Bauern tot!“ zurief. „Schlagt die Bauern tot!“, das war damals soviel als „Schlagt die deutsche Freiheit tot! Schlagt das deutsche Volk tot!“
Und man hat beide gründlich totgeschlagen. Wo steht heute die protestantische Kirche in Deutschland? Auf der Seite der Freiheit etwa? Und unsere bürgerliche Erziehung durch Jahrhunderte? Wovon war die Rede in unseren Schulbüchern und in denen unserer Väter, Großväter und Ahnen? Niemals ist der freie Mann, sondern stets nur der loyale Untertan deutsches bürgerliches Ideal und höchstes staatsbürgerliches Erziehungsziel der Schule gewesen. Dann trat der junge Deutsche in die Welt. Das heißt, er trat leider nicht in die Welt, sondern in die Enge seiner Berufstätigkeit. Hier wurde der übertriebene Autoritätsglaube der Erziehung in die praktische Angst vor dem Vorgesetzten umgewandelt. Nicht der Charakter, ja meist nicht einmal die berufliche Leistung entschieden über die „Karriere“ (jenen deutsche Träume bealpdrückenden Begriff!), sondern Gefügigkeit, Gehorsam, bereitwillige Aufgabe der eigenen Persönlichkeit. Der Untertan hat in jedem Wettlauf um den Erfolg in Deutschland gesiegt.
So war es bei der Armee, in der Beamtenschaft, ja selbst in kaufmännischen und technischen Betrieben. Ein Gefühl für Freiheit hatte schließlich nur mehr der Proletarier. Aber auch der nur, weil und solange er nichts zu verlieren hatte.
Auf der proletarischen Antithese zum Besitz läßt sich aber eine demokratische Republik nicht aufbauen.
Das Bürgertum hat in Deutschland immer versagt. Es hatte in Dutzenden von Kriegen wohl den Mut zum Sterben, aber es hat noch nie den Mut zum Leben gehabt. Und das, weil es aus Untertanen besteht. Auch heute noch. Der Untertan ist in Deutschland unsterblich. Und solange er das ist, werden wir keine richtige Republik haben. […]
Darum, weil Deutsche Untertanen sind, können sie sich auch nicht regieren. Das ist so selbstverständlich, wie nur irgend etwas selbstverständlich sein kann. Der Bürger hat die Revolution nicht gemacht. Er wachte plötzlich in einer Republik auf. Und hatte große Angst. Und aus Angst wurde er Demokrat. Rosa, damit die Roten ihm nichts tun. Ich habe in München sogar viele Leute der „guten“ Gesellschaft gekannt, die U.S.P.-Mitläufer waren. Nur aus Angst! Später wurden sie Hitlerianer. Auch aus Angst. Der deutsche Bürger stellte sich mit zittrigen Beinen auf jeden der nacheinander kommenden Böden der Verhältnisse. Und wurde nur wirklich böse, wenn ihm Einer ans Portemonnaie ging, ein Einzelner, den man erschießen konnte. Aber als der sogenannte Staat in der Inflation das tat, da weinte der Bürger nur, anstatt sich zu wehren, und fiel auf alle Bären herein, die man ihm aufhängte. […]
Der deutsche Untertan hat sich antirepublikanische Richter und Staatsanwälte, eine antirepublikanische Reichswehr, antirepublikanische Gymnasial- und Universitätsprofessoren, einen zu 80 Prozent antirepublikanischen Beamtenapparat geschaffen. Er hat eine antirepublikanische Republik geschaffen, weil er die antirepublikanischen Personen nicht abschaffte. Wo hat sich ein bürgerlicher Wille zur Republik gezeigt? Wo hat sich der Mut gezeigt, an die Feinde der Republik heranzugehen und sie kopfüber aus allen Ämtern und Stellen hinauszuschmeißen? Und wenn der Verwaltungskarren ein paar Jahr holprig gegangen wäre, was hätte es geschadet? Besser auf der holprigen Straße eines politisch ehrlich gewollten Zustandes als im sofaweichen Dreck, wie wir bisher gefahren sind. […]
1926, 43 Franz Carl Endres