— Jg. 1930, Nr. 47 —
Im Simplizissimus stand neulich die bissige Anekdote von dem Herrn Geheimrat, der auf Befragen behauptet, es gehe ihm schlecht. „Aber warum denn schlecht, Herr Geheimrat?“, fragt ihn der Andere, und darauf erfolgt zürnend die Antwort: „Aus grundsätzlichen Erwägungen, mein Lieber.“
Die Pointe wird den Technikern der deutschen Notgemeinschaft nicht gerade in den Kram passen, denn sie enthüllt dem, der es noch nicht wissen sollte, den ekelhaften Schmus, der jetzt wieder um den kommenden „Notwinter“ herum gemacht wird. Wenn sich die unteren Schichten den Riemen enger schnallen, fängt man weiter oben regelmäßig ein vaterländisches Geseires an. Die Leute, denen es verhältnismäßig noch recht gut geht, glauben, wenn sie auch mitjammerten, trügen die Proleten ihr Los leichter, und sie halten es sicher für eine ethisch wertvolle und patriotisch lobenswerte Tat, wenn aus „grundsätzlichen Erwägungen“ heraus ihr Klagelied erschallt, während den andern der Magen knurrt.
In keinem andern Lande wäre diese famose Art, die Gegensätze zu überbrücken, möglich. Kein Prolet der Welt wird an eine Notgemeinschaft glauben, wenn sich ihm die gut gestellte und bestens gesicherte Mittelschicht im patriotischen Mäntelchen anbiedert, um mit ihm gemeinsam auf die Paradeverdiener zu schimpfen, die man als Prellbock vorschiebt: die „pensionswütigen“ Minister und die klotzig verdienenden Aufsichtsräte. Es ist einfach heuchlerisch, wenn gewisse Kreise so tun, als nage in Deutschland mit wenigen Ausnahmen alles am gleichen Hungertuch.
Leute, die auf exponierten Posten stehen, sollten wenigstens den Rummel nicht mitmachen. Was soll man dazu sagen, wenn heute Pfarrer von der Kanzel herunter von der Not sprechen, durch die „wir“ hindurchmüssen, wenn sie so tun, als ob sie, die bestens Versorgten und Gesicherten, auch zu den Opfern der Zeit gehörten? Wohl kann man dem schafsgeduldigen deutschen Volk manches bieten, aber gewisse Anzeichen deuten darauf hin, daß es vielleicht eines Tages doch an der äußersten Grenze angelangt ist. Mir haben wiederholt alte Weiblein, die mit allgemeinen Redensarten zu lenken bei Gott leicht ist, wenn diese nur in der richtigen Sauce gereicht werden — mir haben solche in letzter Zeit mehrfach versichert, wie schön die Predigt des Herrn Pfarrer gewesen wäre, wenn er nicht immer so auffällig von einer gemeinsamenNot gesprochen hätte. Wenn die „Treuesten der Treuen“ hellhörig werden, sollte man schleunigst die nötigen Konsequenzen ziehen.
Aber die Herren Pfarrer sind nicht die Einzigen, die sich zuweilen im Ton vergreifen. Mir blieb neulich die Luft weg, als vor Gericht ein gesetzter Vorsitzender dem miekrigen Angeklagten voll Ernstes erklärte, es gehe uns allen heute schlecht. Ich möchte wirklich nicht vor einem armen Kerl, der draußen auf der hoffnungslosen Provisionsreise (deren ganzes Risiko ihm aufgehalst ist) in größter Not seine Reisemuster versetzt und nun um Verständnis für eine solche Lage wirbt, ich möchte vor einem solchen Menschen um alles in der Welt nicht so dastehen wie dieser Richter.
Merken alle diese Leute denn nicht, wie bodenlos traurig ihr Verhalten ist? Sie können von Glück sagen, daß sie ein so verdammt gutmütiges Volk zu bearbeiten haben. Man sollte jeden Einzelnen zwei Jahre lang an die proletarische Front abkommandieren, dorthin, wo es am miesesten ist. Vielleicht würden sie nachher nicht mit einer solch‘ schamlosen Selbstverständlichkeit sich der Not anbiedern, wie sie es heute weithin tun.
1930, 47 m