— Jg. 1925, Nr. 24 —
Vor einigen Jahren gab es in Berlin ein politisch linksstehendes Blatt, das nicht gerade zu den erfreulichsten Erscheinungen der deutschen Presse gehörte, weil es nämlich seinen Beruf u. a. darin sah, Skandale aus dem Leben der „Gesellschaft“ auf unschöne Weise ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Überschrift wie „Das Liebesnest in der Budapester Straße“, „Der Nuttenmarkt auf dem Kurfürstendamm“, „Der Herr Direktor mit der Reitpeitsche“ und andere Rosinen dieser Art waren an der Tagesordnung. Selbst, wenn man annimmt, diese saftigen Saucen wären einzig in der Absicht aufgetischt worden, möglichst viele Zeitgenossen zur Lektüre der den übrigen Teil des Blattes ausfüllenden pazifistisch-radikalen politischen Artikel zu verführen, kann man nicht Ja und Amen dazu sagen. Denn wenn auch in der Politik der gute Wille das Mittel bis zu einem gewissen Grad heiligen kann, so schädigt das schlechte Mittel doch immer den Zweck, weil diejenigen angelockt werden, denen das miese Mittel eigentlicher Zweck ist, während die andern, auf die es dem Werbenden in Wirklichkeit ankommt, vor dem stinkenden Köder schauernd entweichen.
Diese „Freie Presse“ und besonders ihr Redaktor Heinrich Wandt waren natürlich der Justiz unserer „Republik“ ein Dorn im Auge, weniger — das versteht sich am Rande — wegen der Skandalartikel, als wegen der politischen Richtung. Man war furchtbar scharf darauf, den Mann bei erster Gelegenheit am Wickel zu nehmen. Diese Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten: Wandt ließ ein Buch erscheinen mit dem Titel „Etappe Gent“, in dem er mit genauen Namens- und Datumsangaben eine Reihe jener typischen Fälle aus dem schweren Leben hinter der Front schilderte, die, wer im Krieg war, aus Erzählungen und persönlichen Einblicken kennt. Dabei passierte es, daß er irgend einem der Prinzen Reuß — die ja alle Heinrich heißen und sich nur durch ihre Nummern unterscheiden — etwas in die Schuhe schob, was ein anderer seiner Sippe getan hatte. Der irrtümlicherweise in dem Buch statt Heinrich dem Sechsundneunzigsten genannte Heinrich der Siebenundneunzigste klagte wegen Beleidigung, und Wandt, der seinen Irrtum sofort eingestanden und versichert hatte, er habe nicht den Kläger, sondern den andern gemeint, bekam ein halbes Jahr Loch.
Aber die Justiz ruht nicht, bis sie ihr Opfer so am Kragen hat, daß es sich auch wirklich lohnt. Sie sucht, sucht und findet. Und im Jahr 1923 hatte sie, was sie brauchte.
Da hat sich nämlich Wandt einmal der Hehlerei schuldig gemacht. Jemand hat aus dem Reichsarchiv eine Urkunde gestohlen, die einen Beitrag zu der von uns während des Kriegs getriebenen Flamenpolitik darstellte, und hat sie Wandt übergeben. Für diese Hehlerei bekam Wandt zwei Jahre Gefänignis. Die Strafe wurde aber mit einer anderen von fünf Jahren Zuchthaus wegen „Landesverrats“ zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren Zuchthaus zusammengezogen. Seit dem Dezember 1923 ist Wandt im Zuchthaus.
Wie steht es nun mit diesem „Landesverrat“? Es handelt sich um das gleiche Dokument, wegen dessen die überaus schwere Strafe von zwei Jahren Gefängnis für Hehlerei ausgesprochen wurde. Diese Urkunde nämlich soll Wandt nach Annahme des Reichsgerichts — er selbst bestreitet es — dem belgischen Schriftsteller Dr. Wullus übergeben haben, der sie 1921 in einem Buch „Flamenpolitik, Suprême espoir allemand de domination en Belgique“ abgedruckt hat.
Der Inhalt ist, wie Senatspräsident Freymuth in der „Friedenswarte“ angibt, die Niederschrift der Vernehmung eines in deutsche Gefangenschaft geratenen Führers der Flamenpartei durch einen deutschen Hauptmann. Die Vernehmung hat am 24. September 1918 stattgefunden.
Daß während des Krieges die maßgebenden deutschen Stellen den flämischen Autonomisten Freundschaft und Hilfe gewährt haben, ist kein Geheimnis. In dieser Urkunde steht zu lesen, daß das Endziel der Politik der „aktivistischen Frontpartei“ im belgischen Heere die Errichtung eines selbständig verwalteten Flanderns innerhalb eines freien Belgiens und die Herbeiführung eines Verständigungsfriedens zwischen diesem Belgien und Deutschland sei. Also eine Forderung, die weder die Flamenbewegung bloßstellen konnte (denn der hat man in Belgien ja noch viel schlimmere Ziele zugetraut) noch die deutschen Behörden (oder diese doch höchstens vor den deutschen Annexionisten, die ganz Belgien mit Haut und Haar auffressen wollten).
Trotzdem hat das Reichsgericht die — angenommene, nicht bewiesene — Weitergabe dieses Dokuments an einen ausländischen Schriftsteller als Landesverrat mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft. Dr. Wullus hat in einem offenen Brief vom 23. März 1924 und neuerdings in einem Brief an das (belgische) Justizministerium und einer Notiz in der „Nation Belge“ vom 3. April 1925 versichert, daß Wandt an der Weitergabe des Schriftstückes unschuldig sei.
Besonders merkwürdig, ja geradezu haarsträubend, ist aber die Begründung des Urteils gegen Wandt. Wie der Abgeordnete Dr. Levi am 10. März 1925 im Reichstag mitgeteilt hat, ist das Reichsgericht bei der Verurteilung von folgender Erwägung ausgegangen: „Maßgebend ist, daß durch den Verrat des Schriftstücks zugleich die belgischen Persönlichkeiten verraten worden sind, mit denen die deutsche Regierung während des Krieges in Verbindung getreten war. Sollte unsere Regierung einmal in die Lage kommen, für ihre Zwecke jener Männer von neuem sich bedienen zu müssen, was bei einer Veränderung der gegenwärtigen politischen Lage leicht eintreffen könnte, so würde ihr das durch diesen Verrat bedeutend erschwert werden.“
Diese Begründung spricht nichts weniger aus als die Hoffnung, daß wir eines Tages wieder in die Lage kommen könnten, mit Belgiern gegen ihre Regierung zu konspirieren — und wäre das wohl möglich ohne einen neuen Krieg? Oder sollten die für diese Sätze verantwortlichen Herren gar eine Förderung flämischer autonomistischer Bewegungen durch unsere Regierung auch in Friedenszeit in Erwägung ziehen? So dumm werden doch wohl weder sie noch unsere regierenden Stellen sein!
Auf alle Fälle: hier ist vom Reichsgericht, nicht von einem bayerischen „Volksgericht“, ein Mensch wegen Landesverrats verurteilt worden, ohne daß seine Schuld erwiesen wäre und unter einer Begründung, die dazu angetan ist, nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland starke Zweifel an der loyalen Gesinnung Deutschlands zu erregen.
Schleunige Revision ist zu fordern. Und bis dahin Freilassung des Verurteilten. Wandt ist seit Dezember 1923 im Zuchthaus. Selbst wenn die Hehlerei keinem Zweifel unterliegt, hat er die für sie ausgesprochenen zwei Jahre Gefängnis durch die erlittene Zuchthaushaft von anderthalb Jahren verbüßt. Er hat außerdem neun Monate in Untersuchungshaft gesessen. Wenn man ihm aber nicht sein Recht gewähren will, so schenke man ihm Gnade.
1925, 24 Max Barth
Heinrich Wandt ist im Februar 1926 begnadigt worden, und zwar wegen der „Beunruhigung“, die der Fall Wandt in Belgien hervorgerufen habe.